Value-Investieren -
Der Ansatz von Benjamin Graham
Einleitung
Value-Investieren ist einer der sinnvollsten
Investitionsansätze. Die Grundlagen wurden bereits vor etwa 60
Jahren von den Investoren-Legenden Benjamin Graham und David Dodd
in ihrem bahnbrechenden Buch "Security Analysis"
(Wertschriften-Analyse) formuliert. Einer von Grahams berühmtesten
Schülern an der Columbia Business School war Warren Buffett, das
„Orakel von Omaha“; der Eigentümer und Chairman von Berkshire
Hathaway gilt als einer der grössten Investoren heutiger Tage und
als strikter Verfechter des Value-Ansatzes.
Grahams Ansatz konzentriert sich auf den inneren Wert einer Firma,
der aufgrund ihrer Aktiven, Gewinne, Dividenden und Finanzstärke
gerechtfertigt ist. Die Konzentration auf diese Grössen soll den
Investor, so Graham, vor Falschbewertungen des Marktes während
Zeiten grosser Euphorie oder grossen Pessimismuses schützen. Er
weist jedoch darauf hin, dass der Ansatz, ein missachtetes und
unterbewertetes Papier zu finden und zu kaufen, ein mühsamer und
die Geduld strapazierender Ansatz sein kann, da der Markt, wie
auch J. M. Keynes schon meinte, länger irrational sein kann, als
einem lieb ist. Um einen Gewinn erzielen zu können, der über dem
Marktdurchschnitt liegt, muss der Investor Prinzipien folgen, die
intrinsisch durchdacht, logisch und vielversprechend sind, sich
jedoch von denen der meisten anderen Marktteilnehmer
unterscheiden. Grahams Ziel ist die Konstruktion eines auf einen
bestimmten Analysezeitpunkt bezogenen optimalen Portfolios
bestehend aus Aktien und Obligationen. Ein neutrales Portfolio
besteht demnach aus 50% Aktien und 50% Obligationen. Die Werte
können dabei zwischen einem minimalen Wert von 25% und einem
maximalen von 75% schwanken, abhängig von der jeweiligen
Attraktivität von Obligationenanlagen. Graham unterstreicht seine
Philosophie auch in seinem 1947 erschienenen Buch "The Intelligent
Investor" (der intelligente Investor).
Die Philosophie
Graham meinte, dass es für einen einzelnen Investor
sehr schwierig sei, durch gezielte Titelselektion den Markt zu
schlagen (also die Rendite des Gesamtmarktes - meist ein Index,
wie z.B. der Dow Jones oder der SMI - zu übertreffen). Zahlreiche
Studien über die Performance von Portfolio-Managern haben dies in
der Zwischenzeit bestätigt. Aktien, die nachhaltig besser
rentieren als der Schnitt, weisen ein grösseres Wachstum auf als
der Gesamtmarkt. Das Problem, diese Aktien zu finden, liegt in
zwei Punkten begründet:
Erstens: Auch wenn eine Firma überdurchschnittliche
Wachstumschancen aufweist, so muss dies nicht unbedingt in eine
Überrendite für Anleger münden, da diese Aussichten
höchstwahrscheinlich schon in den Preis der Aktie eingeflossen
sind.
Zweitens: Das Risiko ist gross, dass der Investor sich bezüglich
der Wachstumsaussichten der Firma täuscht. Dieses Risiko wird
durch die Psychologie des Marktes verstärkt, die dazu führt,
Aktien zu über- oder unterbewerten, je nach Marktlage und
Stimmung.
Graham schlägt nun vor, dieses Risiko einer Fehleinschätzung zu
reduzieren, indem der Investor zuerst einen inneren Wert für eine
Aktie bestimmt, der unabhängig von der Marktmeinung ist. Graham
erklärt zwar nirgends genau, was denn unter innerem Wert zu
verstehen ist, aber er schlägt als eine wichtige Komponente die
materiellen Aktiven vor; andere Faktoren, die berücksichtigt
werden müssen, sind Gewinne, Finanzstärke und Stabilität.
Aktien, die über diesem inneren Wert notieren, sollten nicht
gekauft werden, solche die darunter notieren, bieten eine noch
bessere Sicherheitsmarge (margin of safety). Der Value-Investor
kauft also eine Aktie aufgrund seines inneren Wertes zu einem ihm
angemessenen Preis und verkauft diese wieder, wenn der Preis über
diesen von ihm berechneten Wert steigt, unabhängig von den
täglichen Fluktuationen des Aktienmarktes. Aber Vorsicht: das
heisst nicht, dass man sich sklavisch an ein Papier hält. Umstände
können sich ändern, sodass eine Neueinschätzung der Lage
vorgenommen und der innere Wert wieder neu analysiert werden muss.
Typen von Investoren
Graham unterscheidet zwei Typen von Investoren. Der
"defensive" Investor (defensive investor) und der "aggressive"
oder "unternehmerische" Investor (enterprising investor). Diese
beiden Investoren-Typen unterscheiden sich nicht in der Grösse des
Risikos, das sie einzugehen gewillt sind, sondern in der Grösse
des "intelligenten" Aufwandes, den sie gewillt und befähigt sind,
für die Analyse zu betreiben. Als Beispiel für einen defensiven
Investor nennt er einen Arzt, der nicht genügend Zeit zur Analyse
aufbringen kann oder einen jungen, zwar in Finanz ausgebildeten
Berufsmann, dem es aber noch an Erfahrung fehlt.
Diese Investoren sollten nicht versuchen, primär den Gesamtmarkt
zu schlagen, sondern eben diese Rendite durch geschicktes
Investieren zu erreichen. Dies ist möglich durch eine geschickte
Portfolio-Allokation in Aktien und Obligationen sowie geschicktes
Investieren in kostengünstige Fonds, die den jeweiligen
Gesamtmarkt abbilden, oder in Aktien mit einer langen Geschichte
profitabler Geschäfte und starker Position in ihrer Branche.
Primäres Ziel ist die Vermeidung von Fehlern und, damit verbunden,
grosser Verluste. Mehr dazu weiter unten.
Der "unternehmerische" Investor kann sein Anlageuniversum
substanziell ausweiten, jedoch sollen seine Investments immer noch
die Grundlagen intelligenten Investieren befolgen, d.h. substanz-
und/oder wachstumsstarke Firmen zu finden, die am Markt attraktiv
bewertet sind.
Der defensive Investor
Graham definiert diese Gruppe von Investoren als
Menschen, die weniger Zeit und Kapazität aufbringen können oder
wollen als aktive Investoren. Ihre Analyse zielt darauf ab, Fehler
zu vermeiden und keine grösseren Verluste einzufahren, um so
ebenfalls eine Überrendite gegenüber dem Markt erzielen zu können.
Ein kleiner Exkurs: Es sind die nicht eingegrenzten Verluste,
welche die langfristige Rendite eines Portfolios schmälern oder
gar vernichten. Denken Sie daran: um einen 50% Verlust nur schon
wieder wettzu-machen, brauchen Sie 100% Gewinn!
Graham definiert ein Set von Kriterien, das es Investoren erlaubt,
Aktien zu erwerben, die ein Minimum an Qualität bezüglich
vergangener Performance, finanzieller Stabilität sowie bezüglich
des Verhältnisses des Kurses zu diesen Grössen garantiert.
Screening-Kriterien für defensive Investoren
Unternehmensgrösse
Graham präferiert grosse Unternehmungen. Sie haben eher Ressourcen
an Kapital und "Brainpower", um auch schwierigere ökonomische
Verhältnisse zu überstehen. Kleinere Firmen geraten früher in
existenzielle Engpässe. Graham schaut nach Firmen aus, die
vorübergehend unpopulär wurden. Er meint, dass der Markt bei
grösseren Firmen schneller auf positive Nachrichten reagiert als
bei kleineren, bei denen die Investoren nach einem Einbruch länger
skeptisch bleiben. Als Grössenkriterium definiert er die
Marktkapitalisierung. Die heutige Definition an Marktindizes (z.B.
der SMI für schweizer Blue-Chips, der SMIM für schweizerische
mittelgrosse Unternehmungen etc.) teilen die Unternehmungen
bereits für Sie auf.
Starke finanzielle Lage
Graham misst die finanzielle Lage nach verschiedenen Kriterien.
Für den Liquiditätsgrad, ausgedrückt als Current Ratio (=
Liquiditätsgrad I = Cash dividiert durch kurzfristige
Verbindlichkeiten), definiert er eine Grösse von 2.0 oder höher.
Die langfristigen Schulden sollten bei Industriefirmen das
Netto-Umlaufvermögen oder Working Capital (Cash plus Debitoren
plus Lager abzüglich kurzfristiger Verbindlichkeiten) nicht
übersteigen. Dies ist ein ungewöhnliches und ziemlich restriktives
Kriterium.
Bei Versorgern (Telekom-, Energiekonzerne etc.) sollen die
langfristigen Schulden nicht höher als das zweifache des
ausgewiesenen Eigenkapitals liegen.
Gewinnstabilität
Graham betrachtet gerne die Gewinnausweise einer Firma über eine
längere Zeitperiode. Dabei bevorzugt er Firmen, die auch in
schwierigen wirschaftlichen Zeiten Gewinne schreiben. Dies sind
v.a. Firmen aus den Sektoren Versorger, Versicherungen,
Nahrungsmittel, Medizinal und Pharma. Graham empfiehlt 10 Jahre an
positiven Gewinnausweisen.
Dividenden
Ein anderer Test finanzieller Stärke über die Zeit ist die
konstante Ausschüttung einer Dividende. Nach Graham soll eine
Firma während der letzten 20 Jahre ununterbrochene
Dividendenzahlungen geleistet haben.
Gewinnwachstum
Dieses Kriterium geht von einem Gewinnwachstum von mindestens 33%
über die letzten 10 Jahre aus, das sind ungefähr 3% Gewinnwachstum
jährlich. 3% entspricht der langfristigen Inflation der Preise.
Lassen Sie sich durch die gegenwärtige tiefe Inflation nicht
täuschen, es werden auch wieder andere Zeiten kommen!
Moderates Kurs-Gewinn-Verhältnis
Graham hasst die bei Firmen beliebten "Tricks", Gewinnausweise zu
steuern; dies kann geschehen durch den Einbau von neuen
Gewinndefinitionen (denken Sie nur an so unsägliche Ausdrücke wie
EBITDA, i.e. Earnings before Interest, Taxes, Depreciation and
Amortisation) oder das Ausklammern von gewissen Ereignissen durch
Ausweis in Sonderpositionen (z.B. "nicht weitergeführtes Geschäft"
oder "einmaliger“ bzw. „ausserordentlicher Aufwand/Ertrag"). Er
versucht, diese jährlichen "Sondereffekte" in den Gewinnausweisen
zu glätten, indem er die Gewinne über eine bestimmte Periode
mittelt. Er empfiehlt, dass der aktuelle Kurs nicht mehr als das
15-fache des über drei Jahre geglätteten Gewinnes betragen sollte.
Moderates Preis-Buch-Verhältnis
Ein gegenüber seinem inneren Wert "günstig" bewertetes Papier
sollte über ein Preis-Buchwert-Verhältnis (PBV) von nicht über 1.5
verfügen. Graham meint aber, dass ein tiefes
Kurs-Gewinn-Verhältnis ein höheres PBV rechtfertigen könne. Er
verbindet hierzu die beiden Grössen, indem er das KGV mit
dem PBV multipliziert; er definiert als Obergrenze einen Wert von
22.5. Dies entspricht einem KGV von 15 und einem PBV von 1.5.
Der unternehmerische Investor
Graham definiert den unternehmerischen Investor als erfahrenes
Individuum, das willig und fähig ist, einen "intelligenten
Aufwand" zu betreiben für die Analyse einer grossen Anzahl für die
Anlage in Frage kommender Aktien.
Dabei definiert er verschiedene Felder, die es sich zu untersuchen
lohnt.
- Grosse, unpopuläre Firmen, die durch ein tiefes Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) gekennzeichnet sind. Auch kleine Firmen können durch ein tiefes KGV gekennzeichnet sein; das Risiko, dass diese in schwierigen Zeiten in existenzielle Gefahr geraten, ist jedoch ungleich grösser. Zudem dauert es vielfach länger, bis der Markt kleine Firmen nach einem Einbruch wieder wertschätzt. Lassen sie sich aber nicht generell durch tiefe KGVs fehlleiten. Diese können durchaus gerechtfertigt sein, wenn die künftigen Gewinne tief ausfallen werden oder die letzten Gewinne als (zurecht) nicht nachhaltig angesehen werden müssen. Verwenden sie daher immer den Durchschnittsgewinn der letzten 3-5 Jahre zur Berechnung.
- Das zweite Feld umfasst sogenannte "Schnäppchen". Graham definiert "Schnäppchen" als Aktie, die zu 50% oder weniger gegenüber ihrem inneren Wert notiert. Das sicherste Zeichen wäre, wenn dieser innere Wert weniger als das Netto-Umlaufvermögen (Cash, Rechnungsforderungen, Lagerbestände abzüglich kurzfristiger Verbindlichkeiten) betragen würde (d.h. ein Anleger könnte eine Firma kaufen, ohne für ihre Anlagen, Maschinen oder immaterielle Güter wie Patente etc. zu zahlen. Falls sie das für unwahrscheinlich halten, in der Geschichte des Marktes hat es immer wieder solche Fehlbewertungen gegeben.
- Bei all diesen Überlegungen ist aber immer darauf zu achten, dass die Aktien ungerechtfertigterweise zu tiefen Preisen relativ zu ihrem inneren Wert notieren. Dies setzt einen stabilen Gewinnausweis über die letze Dekade, ohne Verluste, und Finanzstärke voraus (vernünftiges Verhältnis von Eigenkapital zu Fremdkapital).
Screening-Kriterien für unternehmerische/aktive Investoren
Folgende Empfehlungen unterstützen Sie bei der Analyse und Auswahl
lohnender Anlageobjekte:
Tiefes Kurs-Gewinn Verhältnis
(KGV)
Ein tiefes KGV kann darauf hinweisen, dass der Markt die
Gewinn-aussichten unterschätzt und die Aktie mit einem Discount
notiert. Ziehen Sie hierzu immer die Durchschnittsgewinne der
letzten 3-5 Jahre hinzu dividiert durch den aktuellen Kurs. Suchen
Sie nach denjenigen Aktien, die innerhalb der tiefsten 10% aller
Aktien liegen. Wiederholt sei darauf hingewiesen, dass ein tiefes
KGV durchaus gerechtfertigt sein kann, wenn eben die Gewinn- oder
Wachstumsaussichten schlecht sind.
Finanzielle Lage
Graham lockert hier seine Vorgaben gegenüber dem defensiven
Investor. Die Current Ratio (= Liquiditätsgrad I = Cash dividiert
durch kurzfristige Verbindlichkeiten) sollte minimal 1.5 betragen,
während die langfristigen Schulden nicht höher als 110% des
Netto-Umlaufvermögens sein sollten.
Gewinn-Stabilität
Ebenfalls eine Lockerung gegenüber dem defensiven Investor; das
Unternehmen soll jedes der letzten fünf Jahre positiv Gewinne
ausgewiesen haben.
Dividenden
Graham verlangt hier nur, dass ein gewisser Level an Dividenden
gezahlt wird.
Gewinnwachstum
Graham verlangt unter diesem Punkt für den aktiven Investor, dass
der letzte ausgewiesene Gewinn höher ist als der vor fünf Jahren
erzielte.
Preis-Buch-Verhältnis
Das letzte Kriterium verlangt, dass der aktuelle Kurs weniger oder
höchstens 120% des Buchwertes materieller Aktiven (also ohne
Goodwill und andere immaterielle Güter) entspricht. Dieses
Kriterium ist hier strenger definiert als für den defensiven
Investor, da Graham meint, dass vom Markt als zweitrangig
gehandelte Unternehmungen normalerweise mit einem Diskont
gegenüber ihrem inneren Wert notieren.
Wenn Sie Aktien nach diesen Kriterien filtern, denken Sie daran,
dass dies nur ein Startpunkt ist. Analysieren Sie die Hintergründe
der Zahlen. Eine Firma kann beispielsweise ein tiefes
Kurs-Gewinn-Verhältnis aufweisen, weil Sonderfaktoren (z.B.
Steuergutschriften) ihr Ergebnis beeinflusst haben. Im
Geschäftsbericht finden Sie zahlreiche Informationen, wenn auch
manchmal gut versteckt im „trockenen“ Zahlenteil.
Zusammenfassung
All diese Kriterien dienen nur zu einer Vorauswahl
an Titeln, basierend auf der persönlichen Veranlagung des
Investors, sich mit den Kapitalmärkten zu beschäftigen. Im Falle
des aktiven Investors heisst dies, sich gründlich mit den
individuellen Gegebenheiten der Firmen auseinanderzusetzen
(Marktstellung, Management, Gewinnwachstums-schätzungen etc.), im
Falle des defensiven Investors - falls er dies nicht tun kann oder
will - zumindest für ausreichende Diversifikation in seiner
Titelselektion zu sorgen (was natürlich auch für den aktiven
Investor gilt). Graham betont ausdrücklich die Notwendigkeit eines
breit diversifizierten Portfolios von nach seinen Kriterien
ausgewählten Firmen, die also alle signifikant unter ihrem inneren
Wert notieren. Er hält eine Auswahl von mindestens 10 für
sinnvoll, präferiert aber eine Anzahl von 30 verschiedenen
Positionen.
Weiterführende Literatur:
Benjamin Graham, Intelligent investieren (mit aktuellen
Kommentaren von Jason Zweig und einem Vorwort von Warren Buffett),
FinanzBuch Verlag, 2005.